Interview mit Emmanuel Pahud
Guten Tag, Emmanuel Pahud! Wir freuen uns sehr, dass sie sich für ein Interview mit der ÖFG zur Verfügung stellen. Meine erste Frage:
Vor kurzem ist Ihre neue CD „solo“ erschienen. Sie reihen abwechselnd Telemann – Fantasien und zeitgenössische Stücke aneinanderreihen. Wie ist das Konzept dieser CD entstanden?
Als
ich begann, am Konzertleben als Musiker teilzunehmen, war es so:
Nicolet spielte zwischen den angekündigten Stücken im Programm
moderne Werke – als Überraschung. Das Publikum hörte zwischen
Bach und Telemann einen Berio, Holliger, ein Boulez Stück.
Heutzutage kann man diese Reihenfolge aufs Programm setzen. Es ist im
Konzertbetrieb wie auch bei Wettbewerben üblich, Werke verschiedener
Epochen aneinanderzureihen.
Wir waren 5 Tage im Studio, haben
mehr als 3 Stunden Musik aufgenommen und diese um die Telemann
Fantasien herum gewoben. Was mich dazu bewogen hat, die 12 Telemann
Fantasien als durchgehendes Thema zu verwenden: Es handelt sich
hierbei um eine Sammlung und nicht um ein großes, eigenständiges
Werk.
Wir haben die von Telemann vorgesehene Abfolge beibehalten,
zwischen die einzelnen Fantasien jedoch moderne Stücke gesetzt. Die
Entscheidung der Reihenfolge trafen wir immer unter Berücksichtigung
des Gesamtrhythmus der CD: mit Brückenschlag, Echo, Resonanz,
Kontrast der einzelnen Werke zueinander. Wir wollen mit diesen
Aufnahmen ein breiteres Publikum erreichen. Ich wünsche mir, dass
unsere Zuhörer diese Musik anders hören und neue Zugänge finden.
Das ist ein wichtiger Aspekt des Künstler-Seins: Menschen mit sich
zu ziehen, Emotionen auszulösen, Leute zum Nachdenken zu bringen,
um durch diese Erfahrung musikalisch zu reifen.
In welchem Studio haben sie die CD aufgenommen?
Wir haben im Hans Rosbaud Studio in Baden Baden aufgenommen. Dort finden jährlich die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker statt. Ich hatte in einer Woche Zeit, abwechselnd das Soloprojekt zu gestalten und im Orchester mitzuwirken. Das Studio, benannt nach dem Dirigenten, hat Geschichte; es ist ein schöner Raum, wo man auch perfekt musizieren kann.
Kennen sie die Klangbrücke von Le Freque?
Ja, ich spiele damit. Ich habe sie im März Amerika ausprobiert und spiele mit einer 14 Karat Klangbrücke, passend zu meiner Flöte. Die Klangbrücke verbindet akustisch die einzelnen Teile des Instruments miteinander. In der Tat werden Intonation und Ansprache besser, wird der Rückfluss der Wellen im Kopfstück bei der Schraube besser, ebenso bei der Übersetzung vom Kopfstück zum Mittelstück. Es hat sich wenig getan in den letzten 20 Jahren im Bereich der Entwicklung. Diese halte ich für relevant. Man hört: der Klang reicht weiter im Konzertsaal. Eine große Unterstützung bei trockener Akustik. Dadurch, dass die Ansprache direkter wird, verliert man auch einen gewissen Spielraum. Wenn die Musik genau in jenem Spielraum steckt, dann nehme ich die Klangbrücke nicht. Die Klangbrücke unterstützt den Klang. Das ist wissenschaftlich belegt. Eine Verbesserung, die mir hilft auf einer anderen Ebene zu musizieren. Ich übe jeden Tag im Konzertsaal. Da gewinne ich eine Vorstellung vom Volumen, der Projektion, den Klangfarben. Es ist nicht nur das Instrument und ich. Wir müssen den Saal in Vibration setzen. Wenn man sich die Zeit nimmt, frühzeitig bei einem Probespiel alles zu checken: wie ist die Beleuchtung, die Temperatur, wie ist das Klavier, wie hoch ist es, wo werde ich stehen, wo gibt es was zu trinken, zu essen, wo sind die Toiletten: das hilft auch den Stresspegel zu senken im Moment des Auftritts. Es ist für Studenten hilfreich rechtzeitig zu kommen und zu sehen – wie sind die Gegebenheiten.
Was soll Musik Ihrer Ansicht nach leisten?
Wir als Interpreten sind vergleichbar den Schauspielern im Film: Das Drehbuch hat jemand anders geschrieben. Wir müssen die Sprache verstehen und die Musik zum Schwingen bringen. Damit die Ohren, die das hören, es verstehen und mitschwingen. Man kann auch sagen wir sind „die Priester“ oder „die Medien“ der Musik. Es ist eine ungewöhnliche Situation: wenn 2500 Menschen sich in einem Konzertsaal versammeln und 2 Stunden lang zuhören, wie 100 Menschen auf der Bühne gemeinsam vibrieren. Etwas, das die Mehrheit der Menschheit nicht erlebt hat, etwas Besonderes.
Musik kann auch glücklich machen. Das ist wissenschaftlich belegt und statistisch erfasst. Es gibt so viele unterschiedliche Musik und es gibt keine Grenzen. Ich versuche nur das zu spielen, was mir gefällt. Ich kann nicht sagen, das ist „gute Musik“, das wäre zu absolut. Aber wenn ich gefragt werde, welches Stück mir am besten gefällt: Es ist immer das, was ich gerade spiele. Wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass es ein Stück meines Lebens ist, wie kann ich erwarten, dass es mein Publikum überzeugt. Musik ist keine kühle Form von Wettbewerb: lauter, schneller zu spielen als jemand anders. Wir sollen die Leute mit der Musik in unseren Bann ziehen und zum Schwingen bringen.
Sie haben vor kurzem in Berlin die Syrinx gespielt und am selben Tag Bruckners 9. in Wien…
Am dem Tag hatte ich zwei Konzerte in zwei verschiedenen Städten, wie auch am Tag zuvor. Die Planung ist manchmal so, dass sie kurz vor dem Scheitern ist. Gott sei Dank hatte ich Glück mit den Flügen. Die Syrinx im Pierre Boulez Saal lief sehr gut. Der Saal ist in elliptischer Form gestaltet, das Publikum um die Bühne herum gereiht. Für die Debussy eignet er sich hervorragend. Die Musik klingt nicht direkt nach vorne, sondern kann in alle Richtungen ausstrahlen. Auch die Sonate von Debussy war dort besonders schön zu spielen. Wir saßen in einem Dreieck, jeder von uns mit einem Winkel des Saals verbunden. Es ist solche intime Musik. Bei der Probenarbeit erreicht man Höhenflüge; die Präsenz von so vielen anderen Menschen im Konzert kann als störend empfunden werden. Und das war jetzt gefühlt völlig anders. Der Pierre Boulez Saal ist wirklich ein Juwel. Ein besonderer musikalischer Salon, ein musikalisches Wohnzimmer von Herrn Barenboim.
Haben sie in Pierre Boulez mehr den Komponisten geschätzt oder den Dirigenten?
Er war eine komplexe Persönlichkeit von einer unglaublichen Intelligenz. Durch die vielen von ihm initiierten Projekte verdanken wir ihm die Szene für Neue Musik nicht nur in Frankreich, sondern zum Teil auch in Europa und zum Teil auch in Amerika. Die Philharmonie de Paris in der Cité de la Musique, der neue, große Konzertsaal ist für mich gemeinsam mit unserer Philharmonie in Berlin der beste Saal in Europa oder in der Welt. Ich rede nicht von alten traditionelleren Sälen so wie der Wiener Musikverein einer ist. Ich spreche von modernen Konzertsälen dieser offenen Form. Boulez machte Musik nicht nur als Dirigent und Komponist. Er erlaubt uns heute, Musik zu machen – und zwar durch die Strukturen, die er geschaffen hat für die Musik von morgen: damit die Neue Musik aktuell bleibt und sich Generation für Generation weiter entwickeln kann.
Ich schätze ihn sehr als Komponisten für die Flötenstücke, die er uns gegeben hat: „…explosante-fixe…“, Mémoriale und die frühen Werke wie die Sonatine. Die unglaubliche Intelligenz und Notwendigkeit in Boulez` Musik: Es ist der Minimalismus Weberns potenziert durch dieses Vergnügen, der Klangfarben. Es ist immer schöne Musik bei Boulez, Schönheit. Viele Komponisten vermeiden das bewusst. Ist es schlimm, wenn es schön klingt? Auch wenn die Musik mal süß klingt, habe ich nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, ich genieße das durchaus.
Als Dirigenten schätze ich Boulez ebenfalls hoch. Das erste, was ich mit ihm gemacht habe war Daphnis et Chloé mit unserem Orchester und das letzte „…explosante-fixe…“ mit Elektronik. Das Gefühl von künstlerischer Brillanz stellte sich beim ihm nicht in der unmittelbaren Arbeit am Werk ein. Aber wenn man zwei Tage später im Radio hörte, was wir gerade gespielt hatten: es klang phänomenal. Gemeistert in den Steigerungen, in der Idee des großen Ganzen und jeder Vorstellung des Details. Er beherrschte dies unvergleichlich, das machte seine Künstlerpersönlichkeit aus. Was er in Angriff nahm, geschah mit Begeisterung. Wir kannten seine Menschlichkeit, Freundlichkeit, die Konstruktivität, dieses enorme Wohlwollende in den Proben mit ihm. In der kulturpolitischen Arbeit war er viel schwieriger, viel zäher und hat auch polarisiert. Er war eine große Persönlichkeit, der wir viel zu verdanken haben. Die von ihm geschaffenen Strukturen bewirken, dass die Neue Musik ein Teil der Gesellschaft sein kann und dass wir heute noch darüber reden.
Waren sie schon einmal in Rheinsberg?
Im Schloss von Friedrich II. mit dem berühmten Barockgarten? Nein, ich war noch nicht da, kenne aber Fotos. Es gab Projekte, die leider nicht zustande kamen. Die letzten Jahre waren dicht geplant und ich möchte mir mit meinem 50. Geburtstag ein wenig mehr Zeit für mich nehmen. Vielleicht schaffe ich es dann dort hinzufahren.
Wann hatten sie das ersten Mal das Gefühl, dass sie die Nachfolge von Aurèle Nicolet angetreten hatten?
Wenn die Leute das so sehen wollen, warum nicht. Folgendes ist ein Fakt: Aurèle Nicolet hat innerhalb des gleichen Jahres den Wettbewerb in Genf gewonnen, geheiratet und die Stelle bei den Berliner Philharmonikern angetreten. Und mich bereitete er im Sommer ‘92 eben darauf vor. Erst gewann ich in Genf, trat anschließend die Stelle in Berlin an und heiratete ein paar Monate später, … als hätte er mir das so weitergegeben. Er nahm sich natürlich auch viel intensive Zeit für meine Vorbereitung auf das Probespiel: Musikalisch von morgens bis abends sieben Stunden am Tag eine Woche lang, dazu die gemeinsamen Mittagessen. Er brachte mich mit großartigen Musikern in Kontakt. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Ich habe mein Bestes getan, seinen Weg zu verstehen, ihm auch teilweise zu folgen. Als Kind war ich begeistert vom Klang der Berliner Philharmoniker unter Karajan. Ich wusste nicht, wer da Flöte spielte. Ich hatte nie diese Vorstellung von meiner Zukunft als Flötist. Und selbst, als ich mich dann dafür entschieden hatte, wusste ich nicht, wohin es mich führen würd. Dass wir heute darüber sprechen würden mit CDs in der Hand! Das ist alles nicht geplant, das ist alles passiert. James Galway war der große Flötist in meiner Zeit als Teenager. Natürlich imponierte er mir sehr. Jean-Pierre Rampal hatte eine Bühnenpräsenz ähnlich der von Pavarotti oder Rostropovich oder Jessye Norman. Das fand ich faszinierend. Diesen unglaublichen Charme, Phrasen mit einer Leichtigkeit zu spielen aber immer vom Herzen. Eine Mischung aus der Intensität von Nicolet, dieser Eleganz von Rampal und der Power und Virtuosität von Galway, das war mein Ideal als ich begann solistisch zu spielen. Alle damals erfolgreichen Flötisten kamen aus der französischen Schule. Ich glaube, mittlerweile ist das internationaler geworden. Wenn man meinen Namen in diesem Zusammenhang nennen möchte, fühle ich mich sehr geehrt.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft der Musik aus? Was können Maschinen leisten?
Ich glaube, Maschinen könnenauchgut für Maschinen spielen. Wenn wir einen Saal von Maschinen haben, können wir auch gut ein Podium voll Maschinen haben. Aber solange wir Menschen haben, die tatsächlich auch unabhängig voneinander denken können, und die sich frei entscheiden, sich zu einem Konzert zu begeben, brauchen wir Mensch auf der Bühne. Sie können sich natürlich von Maschinen assistieren lassen, ein DJ zum Beispiel macht nichts anderes als das. Die Möglichkeiten, die uns die Elektronik bietet, sind zum Teil faszinierend. Es gibt aber viele Komponisten, die Musik für Orchester oder für Musiker schreiben, wo die Herausforderung nur die Genauigkeit ist – was eine Maschine viel besser machen kann als ein Mensch allein oder als 100 Menschen zusammen.
Ich bin sicher, wenn Bach oder Mozart heute leben würden, würden sie auch Maschinen benutzen, Elektronik benutzen. Sie haben immer für neue Instrumente komponiert. Bach würde heute für elektronische Orgel schreiben und weiß Gott was noch. Wagner würde Disco-Lichteffekte, Laserlicht verwenden.
Zum Thema künstliches Leben, künstliche Intelligenz. Die Wissenschaft versucht, unsere DNA zu analysieren und damit das menschliche Leben zu erklären. Es ist toll, dieses Thema zu erforschen. Ich als Konzertbesucher möchte aber nicht unbedingt wissen, woher das Leben kommt oder ob ich es künstlich erschaffen kann. Als Zuhörer möchte ich im Moment lebendig und begeistert sein, will eine einmalige Interpretation eines Werkes hören. Eine Dissonanz, eine Auflösung, die Spannung, die daraus entsteht: Man spürt das. Wenn man sich etwas mehr mit Musik beschäftigt, kann man es erwarten und die Erwartung kann es noch größer machen. Natürlich kann auch eine Enttäuschung kommen. Das macht das ganze spannend und potenziert es. Mit Elektronik ist diese Möglichkeit der Interpretation viel weniger gegeben. Wenn ich als Flötist eine musikalische Phrase zu spielen habe, werde ich sie 100 mal verschieden spielen, nie völlig gleich. In der Elektronik geht es tatsächlich um Präzision, um Genauigkeit, um etwas Wiederholbares. Künstliche Intelligenz macht einiges möglich. Wir werden damit interagieren, das machen wir schon jeden Tag.
In der Musik geht es ums Leben, das Konzert muss gelebt werden. Der Zuhörer ist nicht passiv, er hat sich drei Stunden Zeit genommen, um ins Konzert zu gehen und Geld dafür ausgegeben. Nicht jeder Mensch kann, will so etwas machen. Es ist tatsächlich eine aktive Teilnahme am Kulturgeschehen. Ein Saal mit Erwartung oder ein desinteressierter Saal ist für uns ganz unterschiedlich zu bespielen. Ein Publikum, das uns zelebriert, ist völlig geladen mit bester Energie und wir müssen diese Energie nur zurückgeben.
Letzte Frage: was essen sie am liebsten?
Lokale Küche schätze ich in der Tat sehr. Im Hinblick auf meine rege Reisetätigkeit muss ich sagen: asiatische Küche finde ich am gesündesten und am interessantesten.
Das Interview vom 15. Juni 2018 führte Mirjam Mikacs für die ÖFG.